Artikel aus der DIE ZEIT Nr. 37 2024
Wissen · Harro Albrecht
Frisch erforscht
Gut gedehnt lebt es sich länger
Frisch erforscht
Gut gedehnt lebt es sich länger
Dass Ausdauertraining wichtig für die Gesundheit ist, hat sich herumgesprochen, es hält Lungen, Herz und Blutgefäße fit. Und selbst die größten Sportmuffel dürften inzwischen mitbekommen haben, dass etwas mehr Muskeln nicht nur fürs Protzen am Strand gut sind, sondern auch für einen gesunden Stoffwechsel und den aufrechten Gang im Alter.
Das Stiefkind in der Fitness-Triade ist indes die Beweglichkeit – vor allem unter Männern. Wer sich im Fitnessstudio umschaut, wird vor allem Frauen sehen, die sich intensiv dehnen und dabei schier unglaubliche Körperpositionen einnehmen.
Dabei kann das Investment in die eigene Biegsamkeit lohnen. Brasilianische Forscher und Forscherinnen von der Sportmedizinischen Klinik in Rio de Janeiro haben untersucht, ob und wie Körperflexibilität und Sterblichkeit im mittleren Lebensalter in Verbindung stehen. Ihre Studie, die jetzt im Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports erschienen ist, kommt zu dem Schluss, dass größere Flexibilität mit höherer Lebenserwartung einhergeht.
Für ihre Analyse hatten die Sportmediziner 3.139 Männer und Frauen im Alter von 46 bis 65 Jahren untersucht und über einen Zeitraum von durchschnittlich 13 Jahren begleitet. Sie erfassten grundsätzliche Daten wie Gewicht, Größe, Alter und Geschlecht – sowie zusätzlich den sogenannten Flexindex, eine Kennzahl, welche die Flexibilität eines Menschen in sieben verschiedenen Gelenken widerspiegelt. Die Punktzahl reicht dabei von null bis 80 – wobei letztere wohl nur Schlangenmenschen erreichen.
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen erstmals, dass katzenhafte Geschmeidigkeit eben nicht nur ein nettes Körpermerkmal ist, das einem den Schulterblick im Auto oder das Schuhezubinden erleichtert. Im Untersuchungszeitraum starben 224 Männer und 78 Frauen. Unabhängig vom Geschlecht hatten die Überlebenden einen fast zehn Prozent höheren Flexindex. Frauen mit niedrigem Index hatten ein beinahe fünfmal höheres Sterberisiko, bei Männern mit niedrigem Flexindex war es immer noch fast verdoppelt. Interessanterweise zeigten sich Frauen zwischen 61 und 65 Jahren um zehn Prozent flexibler als Männer zwischen 46 und 50 Jahren.
Womit die Frage im Raum steht, warum viele Männer den Fitnessaspekt Beweglichkeit so schmählich ignorieren: Halten sie Pilates oder Yoga für albern, oder fehlt ihnen schlicht die Begabung für eine vollendete Kopf-Knie-Stellung, auch Uttanasana genannt? Der Weg zur größeren Körperflexibilität ist hart und mitunter äußerst schmerzhaft, wie jeder weiß, der einmal versucht hat, sein gestrecktes Bein auf einen Tisch zu heben. Die Sehnen, Bänder und Bindegewebshüllen der Muskeln brauchen Zeit, sich an die neue Belastung anzupassen – sie geben nur sehr ungern nach, für Erfolgserlebnisse sind also Geduld und Ausdauer gefragt. Frauen sind tatsächlich von Natur aus oft gelenkiger. Unter anderem führt das weibliche Hormon Östrogen zu einem elastischeren Bindegewebe. Und weil viele Frauen weniger muskulös sind, lassen sich die Gelenke freier bewegen.
Leider konnten die Autoren und Autorinnen der Studie nicht beantworten, warum eine niedrige Flexibilität mit einem frühen Ableben einhergeht. Waren zusätzliche Lebensumstände der Unbeweglichen verantwortlich? Sind steife Gelenke vielleicht nur Vorboten anderer Erkrankungen wie frühzeitiger Gefäßverkalkungen? Außerdem ist unklar, ob ausgiebiges Training die Überlebenswahrscheinlichkeit wieder verbessert.
Aber das ist am Ende auch nicht so wichtig. Denn ausreichend Kraft verbessert in Verbindung mit guter Beweglichkeit nachgewiesenermaßen die Körperbalance und senkt damit die Gefahr von Stürzen und Verletzungen. Laut einer Studie reichen dabei zwei Dehnprogramme in der Woche, jeweils zehn Minuten. Einfaches Sitzen auf dem Boden ist ein guter Anfang, denn das dehnt bereits viele Bänder. HARRO ALBRECHT
Viele Grüße, Hans
September 01